Young Europe: Welches Europa wollen wir?
Vom 31. März bis 6. April simulieren 95 Jugendliche aus acht europäischen Staaten in Koblenz und Bonn ein fiktives Europaparlament. Anders als im Europaparlament wählen die Jugendlichen dabei die Themen, die debattiert werden, selbst aus. JUGEND für Europa hat mit dem Projektverantwortlichen Christopher Lucht darüber gesprochen, wie Partizipation und demokratische Teilhabe von jungen Europäern gestärkt werden können. Gefördert wird das Projekt über die Leitaktion 3 des EU-Programms Erasmus+ JUGEND IN AKTION.
JUGEND für Europa: Herr Lucht, mit Blick auf den Zeitpunkt von „Young Europe 2019“: Wurde der strategisch gewählt um vielleicht den ein oder anderen zur Europawahl zu bewegen?
Christopher Lucht (lacht): Der Termin ist natürlich hochinteressant, weil einen Tag bevor wir starten möglicherweise der Brexit stattfinden soll und es dann auch nur noch wenige Wochen bis zur Europawahl sind. Insofern ist der Zeitpunkt natürlich heiß, aber das war von uns nicht unbedingt so geplant. Natürlich möchten wir die Teilnehmer dazu bewegen, sich bei der Europawahl zu engagieren. Nur sind sie noch Schüler und damit fast alle noch nicht volljährig. Wir hoffen aber, dass wir indirekt das Umfeld der Jugendlichen motivieren können. Die Ergebnisse des Projekts werden nämlich auch in die Schulen in der Heimat hineingetragen.
Simulationen von demokratischen Prozessen für Jugendliche gibt es einige. Was ist denn besonders am Modell Europa Parlament?
Lucht: Die Simulation findet auf nationaler, transnationaler und internationaler Ebene statt. Wer sich im nationalen Kontext hervortut bekommt die Möglichkeit, an internationalen Projekten teilzunehmen. 25 Jahre lang haben wir ein Format gehabt, an dem Jugendliche aus ganz Europa teilnehmen konnten. Vor drei Jahren haben wir uns dann überlegt, auch europäisch-regionale Projekte durchzuführen. Das machen wir nun seit 2016. Das Projekt in Bonn und Koblenz ist genau so eins. Deutschland zählt bei uns zur Region „Westeuropa“ – Ende März werden daher die Benelux-Länder, Großbritannien, Irland, Frankreich und Gastdelegationen aus Schweden, Norwegen und Dänemark mit dabei sein.
Das Projekt findet in Koblenz und in Bonn statt – zwei Veranstaltungsorte sind ja eher unüblich. Wie kam das zustande?
Lucht: Unser Verein, das Modell Europa Parlament, hat in Deutschland 16 Mitglieder – aus jedem Bundesland kommt mindestens eine Schule. Vier Schulen aus Bonn und Koblenz haben sich zusammengetan, um das Projekt gemeinsam zu organisieren. Das war gut, weil wir Bonn im Boot brauchten. In Koblenz gibt es nämlich keinen Plenarsaal, der groß genug ist für das Projekt. Die Ausschusssitzungen finden also in Koblenz statt und wenn es zu den Plenartagen geht, wechseln wir nach Bonn ins Stadthaus, wo sonst der Stadtrat tagt.
Gar nicht so ungewöhnlich, Ortswechsel sind ja eine gute europäische Tradition… Aus welchen Kontexten kommen denn die Teilnehmer?
Lucht: Die Vereinsstruktur, die wir hier in Deutschland haben, gibt es ähnlich auch in anderen Ländern. In den Niederlanden machen 140 Schulen mit, in Frankreich gibt es hingegen nur eine Schule. Die Jugendlichen, die bei Young Europe 2019 dabei sein werden, haben alle schon mal an einem nationalen Modell Europa Parlament teilgenommen und gezeigt, dass sie engagiert sind und sich für die Debatten interessieren. Auch müssen ihre Englischkenntnisse gut genug sein, um in der Debattensituation mit der Fremdsprache zurecht zu kommen.
Diesen Jugendlichen muss man das Europäische Parlament vermutlich nicht mehr en Detail erklären. Was ist denn das Ziel des Projekts, was möchten Sie vermitteln?
Lucht: Es geht in erster Linie darum, sich mit europäischen und jugendpolitischen Themen auseinander zu setzen. Die Jugendlichen können aus fünf Themen auswählen, welches sie im Ausschuss debattieren möchten. Das sind Themen wie die europäische Sozialagenda im Bezug auf Jugendpolitik, die EU-Russland-Beziehungen, der Einfluss von Lobbyisten auf die EU-Politik, der Klimawandel sowie die Gefahren und Chancen von Gentechnik. Dazu haben sich die Teilnehmer überlegt, am vorletzten Tag des Projektes Europa-Politiker zu einem Austausch einzuladen.
Geht es da um eins der Ausschussthemen?
Lucht: Nein, es geht um die digitale Welt und das Internet. Das Thema kam von den Jugendlichen selbst – auch weil mögliche Uploadfilter auf sozialen Plattformen momentan bei den Jugendlichen sehr stark umstritten sind. Das Thema haben sie aber schon vor einem halben Jahr gewählt als die Diskussion um die Reform des Urheberrechts in die Öffentlichkeit drang. Also haben wir mit Julia Reda (Piratenpartei) und Axel Voss (CDU) zwei relevante Fachpolitiker aus dem Europaparlament, eingeladen, die mit den Jugendlichen im Bonner Stadthaus darüber diskutieren. Die Idee ist also, dass sie die Politiker mit den Fragen löchern können, die ihnen unter den Nägeln brennen.
Nun sind Sie auch persönlich ein begeisterter Europäer. Was bedeutet diese Europawahl denn für Sie und welche Botschaft geben Sie den Jugendlichen mit?
Lucht: Wir sagen den Jugendlichen nicht direkt: „Europa ist wichtig“, sondern zeigen ihnen, dass viele Themen national überhaupt nicht mehr zu bewältigen sind und Europa die einzige Möglichkeit ist, politisch etwas zu bewegen. Über die europäische Zusammenarbeit können die Ergebnisse nicht 100-Prozent zufriedenstellende Ergebnisse für die nationale Ebene sein. Sie sind immer Kompromisse.
Das ist eine zentrale Botschaft für mich. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen geht es für mich nicht um die Frage, ob wir Europa wollen oder nicht, sondern ob wir ein grünes Europa, ein soziales Europa, ein konservatives Europa, ein fortschrittliches oder rückschrittliches Europa wollen. Wenn Leute versuchen den Gegensatz „Europa ja oder nein“ aufzubauen, ist das aus meiner Sicht ein Spiel, auf das man sich nicht einlassen sollte.
Nun ist es ja so, dass die Teilnehmer des Projekts bei der anstehenden Wahl noch nicht ihre Stimme abgeben dürfen. Wie gehen sie denn damit um?
Lucht:Naja, wenn Malta und Österreich mit dem Wahlrecht ab 16 in die Diskussion kommen und man dann noch etwas weiter bohrt und rauskommt, dass 16-jährige Deutsche in Österreich auch wählen dürfen, österreichische Jugendliche in Deutschland aber nicht, dann sorgt das natürlich für Unverständnis über die 27 unterschiedlichen Wahlgesetze. Auch beim Thema transnationale Listen gibt es oftmals kontroverse Diskussionen. Da hat sich in den 40 Jahren kaum etwas getan und das merken natürlich auch die Jugendlichen.
Das Projekt arbeitet mit dem Ansatz des peer learnings. Was macht ihn für Sie zu einem geeigneten Mittel, junge Menschen an demokratische Prozesse heranzuführen?
Lucht: Für mich ist es ein spielerisches Element, das die Motivation steigert, sich für Politik zu interessieren. Wir merken das jedes Mal aufs Neue: Im ersten Moment wirkt es sehr streng bei uns: Alle kleiden sich sehr schick, benutzen eine formale Sprache, bedanken sich für das Wort und stehen auf wenn sie sprechen. Ich glaube aber, das hilft den Jugendlichen dabei, sich weniger wie auf dem Schulhof zu fühlen und sich in die Welt der Politik hineinzudenken wenn sie Resolutionen schreiben. Es geht aber auch darum, ernst genommen zu werden und seine Anliegen bei offiziellen Stellen und Politikern vorbringen zu können. In den Auswertungen lese ich oft die Rückmeldung, dass diese Erfahrung für viele der Jugendlichen das erste Mal war, dass ihre politische Meinung gehört und ernst genommen wurde. Wenn der Effekt also ist, dass sich Jugendliche „gebraucht“ und aufgewerteter fühlen als vorher, ist das doch sehr positiv, oder?
(Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa)